Montag, 23. Januar 2023

Leo Sternberg: Der junge Künstler


 
Der junge Künstler

Ich habe den Göttern auf Erden Wohnungen bereitet,
türkisblaue Meergrotten und Birkenhaine im Mond.
Ich habe Höhen gestürmt, von Gletscherdrachen bewohnt,
mit Tempeln gekrönt und den Pilgern schwindelnd Terrassen hinaufgebreitet.

Und meine Arme stoßen, verzweifelt ausgebreitet,
an enge Wände! . . . In die steile Schlucht
der Gasse blickt mein Himmelsblau . . . Die abgenagte Schale einer Frucht
ist meine Tafel, die mich weidet!

Es steigt kein Gott herab mit einem Feuertrank. . .
Es naht kein Mensch, der mir den Kranz umschlingt!
Der Regenbogen meines Traums versank . . .
Und das Genie, das nun mit Göttern Nektar trinkt,
und dessen Bild ich trug zur fernsten Meeresbank,
beschattet meinen Stern, der nie erblinkt.

Leo Sternberg, aus: Die Aktion, 3. Januar 1914, Lyrische Anthologie

Leo Sternberg, geboren am 7. Oktober 1876 in Limburg an der Lahn, er schrieb Lyrik und schuf eine Reihe von kulturhistorischen Werken. Seine Lyrik erschien unter anderem in den Zeitschriften Die Aktion, Hochland, Der Brenner, Jugend und Der Feuerreiter. Als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie trat er 1906 aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft aus und 1933 der katholischen Kirche bei. Als „Nicht-Arier“ wurde er 1934 vom Dienst als Amtsrichter suspendiert, vorzeitig in den Ruhestand versetzt und hatte fortan Schwierigkeiten, seine Werke zu veröffentlichen. 1937 reiste Sternberg mit seiner Frau nach Jugoslawien, um Recherchen zu einem Romanprojekt über den Kaiser Diokletian anzustellen. Seine Tochter war bereits zuvor nach Jugoslawien ausgewandert. Wenige Tage nach seiner Ankunft im Oktober starb er auf der Insel Hvar in Dalmatien und wurde dort beerdigt. Sein Bruder Hugo Max Sternberg, dessen Frau Lola und die gemeinsame Tochter Lili wurden 1943 in Auschwitz ermordet.




Das Bild ist von Odilon Redon (1840 - 1916)


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