Gebet
Aus dem Spiegel sehen Augen mich an
Große dunkle traurige Menschenaugen.
Sind´s denn die meinen?
Und im gespiegelten Spiegel mein Herz, mein Leben?
Schönheit, berühre die Stirn mir du,
Daß sie wieder glänze!
Dein Licht bleibt die Macht.
Gedanken, stellt euch als Bäume um mein Bett!
Mein Vater hat euch gepflanzt!
Ihr seid hoch gewachsen und wachst noch höher.
Aus euren Wipfeln singen Vögel mir Weis-
heit ins Ohr gegen den Lügenschwatz Welt.
Und vergiß du mich nicht Erzengel Liebe!
Blaß geworden nicht minder schön.
Hauche mich an, daß die Würze bleibt!
Decke mit deinem Fittich meinen Leib, damit
er versinke in den Tod, dem Auferstehung folgt.
Januar 1942
Lotte Brunner, aus: Gedichte 1903 - 1942, handschriftliches Manuskript, Leo Baeck Institute, New York
Lotte Brunner war eine Frau, deren Leben und Sterben dem Leser viele Rätsel aufgibt. Der erste Schlüssel steckt im Titelzitat, sowie im Todesjahr 1943. Lotte Brunner ist im KZ Sobibor umgekommen, obwohl sie sich als Halbjüdin in Holland hätte retten können.
Es handelt sich um eine Frau, die sich immer als Europäerin fühlte, von hohem geistigen Niveau, verbunden mit Literatur, klassischer Musik und Kunst. Sie schrieb selbst Gedichte, war ausgebildete Lehrerin und begeisterte Sängerin im Bach-Chor. Geboren in der Kaiserzeit im vornehmen Othmarschen vor den Toren Hamburgs, wurde nach der Scheidung ihrer Eltern und der Ehe ihrer Mutter mit dem Philosophen Constantin Brunner ihre Heimat Potsdam und Berlin. Die Tragik, die ihr Leben überschattet, ist verbunden mit einem ganz besonderen Verhältnis zu ihrem einundzwanzig Jahre älteren Stiefvater, für den sie bald alles bedeuten sollte: Schülerin, Liebende und später unentbehrliche Gefährtin, die durch ständigen Dialog mit ihm wesentlich an der Entstehung seines Werkes teil hatte. Doch nach glücklichen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fühlte sie sich zunehmend gefangen im goldenen Käfig. Häufige Reisen sollten dagegen helfen.
Anderseits hat dieses Leben ihr einen hoch interessanten Freundeskreis geschenkt, der ein wesentlicher Aspekt ihrer Biographie darstellt. Namen wie Walther Rathenau oder Rose Ausländer und Lou Andreas-Salomé tauchen in dem Zusammenhang auf, Menschen, die die Stieftochter des Philosophen alle zunächst als guten Geist des Hauses kennen lernten. Von März 1925 bis Februar 1933 hielt Lotte Brunner in Berlin mehrere öffentliche Vorträge, die beim Publikum sehr gut ankamen.
Die Authentizität der Aussagen dieses Buches wurde dadurch erhöht, dass Lotte Brunner fast ihr ganzes Leben lang Tagebuch geführt hat sowie einen umfangreichen Briefwechsel pflegte. In der niederländischen Emigration, wo Constantin Brunner 1937 verstarb, wurde ihr Leben trotz einer späten Heirat immer dramatischer, und der Leser wird eingefangen von dieser Atmosphäre, die schließlich den Weg in die Gaskammer mitfühlen lässt.
Aus dem Klappentext von "...dass ich zur Menschheit gehöre": Lotte Brunner (1883-1943). Eine Biographie Taschenbuch – 23. Juli 2012, von Renate Stolte-Batta, BoD
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