Dienstag, 24. Januar 2023

Märchen - Gedichte von Gertrud Kolmar, Isabelle Kaiser, Selma Merbaum

 


Märchen

Ich hab vor deinem Hause still gestanden
In einer Nacht.
Und hatte ganz dich lieb und ohne Maßen;
Ich wies zu dir den Sternen goldne Straßen
Und habe selig stumm gelacht.

Ob meinem losen Haar hob ich die Arme
Wie Zweige, schlank und rund.
Da stürzte Regen in das Mainachtschweigen
Und rief sich zage Blüten aus den Zweigen,
Und jede war ein blasser Mund.

Du aber kamst nicht.
So streute ich mit lächelndem Verschwenden
Dem Mond die Blumen her.
Und spürte Treiben herber, dunkler Kräfte,
Mir ward die Frucht voll süßer, süßer Säfte;
Schon fiel sie, duftend, weich und schwer.

Du aber kamst nicht.
Eishagel tanzte höhnend auf den Steinen.
Da klaffte schwarz ein Schacht.
Drein ließ ich die zerbrochnen Arme hangen. -
Geblüht und Frucht getragen - und vergangen
In einer Nacht.

Gertrud Kolmar (1894 – 1943), aus: “Gedichte” Suhrkamp Verlag 1996, Anfang März 1943 wurde die am 10. 12. 1894 geborene Dichterin Gertrud Kolmar im Konzentrationslager Auschwitz ermordet.

Märchen

Sie liebten sich hienieden,
Doch niemand wußte davon,
Und als sie starben in Frieden,
Da blühte der rote Mohn.

Sie wurde zu Grabe getragen
An einem stillen Tag;
Und niemand wußte zu sagen,
Wo er im Tode lag.

Sie ruhte tief im Tale,
Die Sterne schauten herab —
Da grünte mit einem Male
Ein Zweig auf ihrem Grab.

Es grünte Zur selben Stunde,
Hoch in der Berge Luft,
Ein Zweig im Felsengrunde
Aus unbekannter Gruft.

Isabelle Kaiser, aus: Mein Herz, Gedichte von Isabelle Kaiser, J. G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger, Berlin 1921

Isabelle Kaiser, geboren am 1. Oktober 1866 in Beckenried/Kanton Nidwalden; gestorben am 17. Februar 1925 in Beckenried, Schweizer Schriftstellerin.

Märchen

So. Und das ist wahrscheinlich der Schluss.
Der Regen weint und es weint die Nacht
und es weint mein Mund um einen Kuss
und weint und weint - und lacht.

So geht wohl jedes Märchen aus,
denn sonst - ist es nicht wahr:
Einer allein in den Wind hinaus
und die Nacht ist sein Altar.

Und die Sehnsucht ist seine Priesterin.
In einem großen, blauen Kleid
kniet sie zu seinen Füßen hin
und sie ist so weit... so weit...

So weit wie meine Augen -
verloren in einem Wald,
spielen sie blind und tot mit dem Wind,
und ich bin müd und kalt.

Die Wege sind so endlos lang.
Und meine Tage sind es auch
und allen Bäumen wird so bang.
Verregnet jeder Strauch.

Ich gehe mit der Nacht vereint
und bin so einsam wie sie.
Der Regen weint und der Wind weint
um mich - oder um sie?

7.3.1941

Selma Meerbaum-Eisinger, 1941

Selma Merbaum (in anderer Schreibweise Selma Meerbaum-Eisinger), deutschsprachige Dichterin aus der Bukowina, 5. 2. 1924 geboren, starb 16. 12. 1942 als verfolgte Jüdin im Zwangsarbeitslager Michalowika in der Ukraine.

Aufmerksam auf diese Dichterin bin ich von der Schriftstellerin Marion Tauschwitz gemacht worden, die eine lesenswerte Biografie über die Dichterin geschrieben hat, aus der auch das obige Gedicht stammt. Dafür danke ich sehr herzlich.

Marion Tauschwitz: Selma Merbaum – „Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben“. Biografie und Gedichte. Vorwort von Iris Berben. Zu Klampen, Springe 2014

Die Illustration ist von Virginia Frances Sterrett (1900 - 1931)

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