Dienstag, 24. Januar 2023

Alfons Petzold: Wolke am Abend / Das Gesicht des Abends

 


Wolke am Abend

Hoch im Himmel, in dem stillen, klaren,
Segelt, scharf von hellem Blau begrenzt,
Eine Wolke, ganz von wunderbaren
Abendlichtern goldig überglänzt.

Einer Insel gleich, die leidentwöhnte,
Ewig frohe Göttermenschen trägt,
Also zieht sie durch die gottversöhnte
Blaue Flut, die keine Welle schlägt,

Manchesmal beschattet sie die fahle,
Müde Landschaft zärtlich, muttermild,
Und des Sees grüne Spiegelschale
Trinkt begierig ihr entzückend Bild.

Jetzt von ihrem rötlichen Gestade
Fällt ein Leuchten in das tiefe Land,
Und ich ahne: eine hohe Gnade
Faßt noch heute meine Menschenhand.

Das Gesicht des Abends

Das Gesicht des abendlichen Landes
Ist mir mit dem letzten Lächeln zugewandt;
An dem Saum des fernsten Wiesenrandes
Lehnt es sich an Gottes goldne Hand.

Was der müde Tag ihm gibt zu schauen:
Reifer Felder scheuerfrohes Gut,
Tausend Bäume, die gleich frommen Frauen
Sich in dieser Stunde tief erbauen,
Wolken, die wie wunderbare Auen
Liegen in der letzten goldnen Glut,
Spiegeln sich in seinen gütig blauen
Augen wie in klarster Flut.

Beim ersten Strahl der silbernen Gestirne
Löscht das Gesicht ein schwerer Schatten aus -
Doch dort - dort trägt es eine Bauerndirne
Durch dunkle Gärten in des Liebsten Haus.

Aus: Alfons Petzhold (1882 - 1923), Gesang von Morgen bis Mittag, 1. Auflage Wien 1922, I Der Wanderer

Das Bild ist von Caspar David Friedrich (1774 - 1840)

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