Dienstag, 24. Januar 2023

Ernst Stadler: Herbstgang / Der Flüchtling aus dem verschwundenen Garten / Auferstehung

 


Herbstgang

Und strahlend unter goldnem Baldachin
um starre Wipfel funkelnd hingebreitet
und Kronen tragend gehn wir hin
und flüsternd gleitet
dein süßer Tritt gedämpft im bunten Laub.
Aus wilden schwanken lachenden Girlanden
rieselt's wie goldner Staub
und webt sich fließend ein in den Gewanden
und heftet wie Juwelen schwer
sich dir ins Haar und jagt vom Licht gehetzt
in grellen Wirbeln vor uns her
und sinkt aufstiebend in das wirre Meer
kräuselnder Blätter die vom Abendduft genetzt
wie goldgewirkte Teppiche sich spannen ...

Nun lischt im fernsten Feld der letzte Laut.
Vom Feuer leis umglüht ragen die Tannen.
Ein feiner dünner Nebel staut
und schlingt sich bäumend um zermürbte Reiser
und irgendwo zerfällt ein irres Rufen.

Und deiner Schleppe Goldsaum knistert leiser
und atmend steigen wir auf steilen Stufen.
Weit wächst das Land von Schatten feucht umballt.
Drohend aus Nebeln reckt sich Baum an Baum.
Und schwarz umfängt uns schon der große Wald.
Und dunkel trägt uns schon der große Traum.

Ernst Stadler, aus: Präludien, Gedichte, Straßburg 1904

Der Flüchtling aus dem verschwundenen Garten

Da sich mein Leib in jener Gärten Zaubergrund verirrte,
Wo blauer Schierling zwischen Stauden dunkler Tollkirschenblüten stand,
Was hilft es, daß ein später Tagesschein den Knäuel bunter Fieberträume mir entwirrte.
Und durch das Frösteln grauer Morgendämmerungen sich mein Fuß den Ausweg fand?
Von jener Nächte frevelvollen Seligkeiten
Gärt noch mein Blut so wie mit fremdem Fiebersaft beschwert,
Und aus dem Schwall der Stunden, die wie hingejagte Wolken mir entgleiten,
Bleibt tief mein Traum wie über blaue Heimatseen in sich selbst gekehrt.
Um meines Lebens ungewisse Schalen neigen
Und drängen sich die Bilder, die aus heißen Urwaldkelchen aufgeflogen sind,
Und meine Wünsche wollen, wilde Vogelschwärme, in die Wipfel hoher Tannenwälder steigen.
Und meine Seele schreit im Dunkel auf, wehrlose Wetterharfe unterm Wind.

Ernst Stadler, aus: Die Aktion, Nr. 34, 9. Oktober 1911

Auferstehung

Flut, die in Nebeln steigt. Flut, die versinkt.
O Glück: Das grosse Wasser, das mein Leben
überschwemmt, sinkt, ertrinkt.
Schon wollen Hügel vor. Schon bricht gesänftigt
aus geklärten Strudeln Fels und Land.
Bald wehen Birkenwimpel über windgesträhltem Strand.
O langes Dunkel. Stumme Fahrten zwischen
Wolke, Nacht und Meer
Nun wird die Erde neu. Nun gibt der Himmel
aller Formen zarten Umriss wieder her.
Herzlicht von Sonne, das sich noch auf gelben Wellen bäumt -
Bald kommt die Stunde, wo dein Gold in
grünen Frühlingsmulden schäumt -
Schon tanzt im Feuerbogen, den der Morgen
übern Himmel schlägt,
Die Taube, die im Mund das Oelblatt der Verheissung trägt.

Ernst Stadler, aus: Die Aktion Nr. 10 1913

Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, Elsass, Lyriker. Von 1910 bis 1914 lehrte Stadler deutsche Philologie als Professor in Brüssel. Das Angebot, als Gastprofessor nach Toronto zu gehen, musste er ausschlagen, da der Erste Weltkrieg begann und Stadler als Reserveoffizier eingezogen wurde. Noch im selben Jahr am 30. Oktober 1914 wurde er während der Ersten Flandernschlacht durch eine Granate getötet.


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