Dienstag, 24. Januar 2023

Victor Wittner: November

 


November

Der Himmel ist verschnupft und atmet Nebel.
In weiten Schritten atmen die Laternen,
umflort vom Dunst des dampfenden November.
Morast gärt heficht aus den Pflasterlücken,
befruchtet von der Atmosphärenfeuchte,
geknetet von den Schuhen der Passanten.
Die Straßenbahnen klingeln ängstlich Warnung
und rennen gleisgefangen ihre Wege.
November, aus den nassen Kleidern triefend,
schleift durch die trüben und verengten Gassen
und keucht asthmatisch aus der schmalen Brust.
Er greift mit langen Fingern in den Himmel,
der niedrig über dem Gedächer hängt,
und bohrt die ewig trächtigen Wolken durch:
Ein dünner Regen rinnt, November mischt
aus ihm und dem Morast das graue Gift,
das dunstend aufsteigt und die Lungen trifft. . .

Aus: Victor Wittner „Der Sprung auf die Straße - Gedichte“, Verlag Die Schmiede, Berlin 1924

Victor Wittner, geboren am 1. 3. 1896 in Herta, Rumänien, gestorben am 27. 10. 1949 in Wien, Schriftsteller und Lyriker.

Wittner arbeitete ab 1928 als Redakteur und von Januar 1930 bis Mai 1933 als Chefredakteur der in Berlin herausgegebenen Kulturzeitschrift „Der Querschnitt. Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte“. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ging er zurück nach Wien, wo er aus Armut häufig die Wohnung wechseln musste. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 floh er nach Prag und dann in die Schweiz. Er wurde zunächst interniert und lebte dann in Flüchtlingsunterkünften in Zürich. Er erhielt in der Schweiz erst 1945 eine Arbeitserlaubnis. Ab 1947 hielt er sich zeitweise auch wieder in Wien auf.

Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935) 

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