Europa
Schachtelhalme stechen aus den schwarzen Gewässern der Vorzeit,
Pioniere wickeln Stacheldraht darum,
Eine Frau fällt in Krämpfe und schreit furchtbar,
Dann ist es wieder still.
In einem tropfenden Stollen denkt einer an bunte Jahrmarktswagen,
An die Messingspiegel in Waffelbuden
Und an einen Sommertag, da er sich heimlich für zehn Pfennige Bonbons kaufte.
Er wird wieder ganz Kind und schämt sich sehr.
In der Nacht brüllt ein Geschoss auf.
Der im Stollen denkt: Ob drüben auch einer solches im Kopf trägt
Und sich so tief verkriechen muss vor Scham?
Er erinnert sich, dass er seinen Bruder schlug.
Da dehnt er sich weit aus. Fließt durch alle Gräben, Raschelt an allen Verhauen, schüttelt alle Vorwände ab.
An allen Stellen schießt man durch seinen riesigen Leib,
Er muss aus seinem Versteck hervortreten,
Wird sehr herzlich zu seiner Stollentreppe
Und berührt das spärliche Gras mit seinen Händen.
Wie er den ersten Stern sieht, wird er Umarmung
Und will seine Brust zum Reden öffnen –
Das Land ist schwarz und furchtbar stumm.
Man sieht, es will schreien. Vergeblich, Hände schnüren sich darum
Und ersticken. Es bäumt sich und beult
Ganz schwarz und stumm – Echo? –: Europa ...
Aus einem Trichter wächst ein Kinderarm. Weiß, ungeheuer.
Irgendwo erschlagen Menschen einen Menschen
– Aus seinem Blut steigt grenzenlos das letzte Signal.
Curt Saemann, geboren am 2. Februar 1893 in Wiesbaden. 1914 Kriegsfreiwilliger. Lernte in Berlin Theodor Däubler kennen. Im September 1918 bei Dixmuiden schwer verwundet. Starb am 24. Oktober 1918 im Lazarett in Hannover. Literarische Beiträge in spätexpressionistischen Zeitschriften. Keine Buchveröffentlichung.
Sozusagen live aus dem Krieg wurde dieses Gedicht 1918 in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion unter der Rubrik Verse vom Schlachtfeld veröffentlicht. Es dürfte eins der letzten Gedichte des Autors gewesen sein.
Das Bild ist von Hans Baluschek (1870 - 1935)
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